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Titel
Göttliche Natur?. Formationen im Erdbebendiskurs der Schweiz im 18. Jahrhundert


Autor(en)
Gisler, Monika
Erschienen
Zürich 2007: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christian Rohr, Historisches Institut, Universität Bern

Studien, die sich kulturgeschichtlich an das Thema «Naturkatastrophen in der Geschichte» annähern, sind in den letzten zehn Jahren deutlich zahlreicher geworden. Darin wird nicht allein eine Rekonstruktion historischer Ereignisse versucht, sondern die Interaktion zwischen Naturereignis und Menschen steht im Vordergrund. Monika Gisler widmet sich in ihrer 2006 an der Universität Basel approbierten Dissertation in erster Linie den zeitgenössischen Erklärungsversuchen von Erdbeben. Sie geht in ihrer Grundthese davon aus, dass «kulturelle Praktiken – hier gedacht als symbol- und sinnbildende Handlungen in (historischen) Spielräumen – ... zum Ziel hatten, die natürliche Welt zu verstehen, zu erklären und – zumindest in Ansätzen – zu beherrschen» (S. 14). Sie betrachtet den Erdbebendiskurs im 18. Jahrhundert allerdings nicht nur eingegrenzt auf die Bildungseliten, sondern möchte in Anlehnung an Steven Shapin und Simon Shaffer (1985) und anderen ein «symmetrisches Vorgehen» anwenden, wonach «alle Formen von Wissensproduktion» zu berücksichtigen sowie «Akteure und ihre Kontexte ... gleichberechtigt nebeneinanderzustellen» sind (S. 20). Die «Gleichzeitigkeit von Deutungsmustern in einem heterogenen Umfeld» erlaube «eine differenziertere Beleuchtung des Verhältnisses von Wissen und Religion beziehungsweise von Wissenschaft und Theologie» (S. 15) – gerade für das Zeitalter der Aufklärung eine besonders reizvolle Fragestellung, als straftheologische und naturtheologische Ansätze in Konkurrenz zueinander standen oder auch einander ergänzten.

Ein erstes Grosskapitel ist der Person Johann Jakob Scheuchzers gewidmet, der sich u.a. in seinen naturgeschichtlichen Werken auch mit extremen Naturereignissen wie Erdbeben auseinandersetzte. Besonders aber interessiert Gisler die Korrespondenz Scheuchzers – und dabei wiederum der Wissenschaftsdiskurs im gesamten Korrespondentennetz, dem unter anderen der Theologe und Pfarrer von Eglisau, Johann Jakob Hug, der Luzerner Moritz Anton Kappeler und der Basler Johann I Bernoulli angehörten. In diesem Kreis verbanden sich empirisches Sammeln von Daten und Erforschen der Natur mit theoretischen Überlegungen. Dennoch fehlen auch straftheologische Deutungsmuster von Erdbeben nicht: das «moralische Konzept von Natur, in dem Gott als Weltenlenker ... erkannt werden könne», blieb weiterhin vorherrschend (S. 103). Lobenswert ist in diesem Kapitel auch der quellenkritische Ansatz, allgemein nach den Möglichkeiten und Problemen von Korrespondenzen als historische Quelle zu fragen (S. 75–78). Die Relevanz von Korrespondentennetzen des 18. Jahrhunderts als historischer Forschungsgegenstand wurde gerade in den letzten Jahren verstärkt betont, wie etwa auch die 2005 erschienene Studie von Martin Stuber, Stefan Hächler und Luc Lienhard zu Albrecht von Haller zeigt.

Nach dem Tod Scheuchzers flaute der Erdbebendiskurs in der Schweiz wieder weitgehend ab, bis er 1755 anlässlich des verheerenden Erdbebens von Lissabon, dem ersten europaweiten Medienereignis, erneut und intensiver als je zuvor wieder aufkam. Zudem ereignete sich noch im selben Jahr ein schweres Erdbeben mit Intensität 8 nach der EMS98-Skala im Kanton Wallis. Gisler widmet den unterschiedlichen Reaktionen und Erklärungen des Erdbebens in der Schweiz den Hauptteil ihrer Arbeit, wobei der Schwerpunkt auf den protestantischen Bildungseliten liegt. Den Ausgangspunkt bildet das berühmte Erdbebengedicht Voltaires, in dem sich der französische Philosoph vehement «gegen eine Radikalisierung der Theodizeefrage und eine metaphysische Optimismuskonzeption» wandte (S. 108). Gisler analysiert eingehend die Meinungen im Korrespondentennetz Voltaires, v.a. der Personen, die auch die noch radikalere Urfassung von Voltaires Erdbebengedicht kannten und auf diese durchaus kritisch reagierten. Darunter befanden sich etwa der frühere Berner Magistrat und Landvogt Beat Ludwig von May oder der Pfarrer an der Französischen Kirche in Bern, Elie Bertrand. Die Meinungen der Gelehrten in der Schweiz waren durchaus vielfältig und gleichermassen theologisch wie naturphilosophisch geprägt. Einer der schärfsten Kritiker der Sicht Voltaires war Jean-Jacques Rousseau, der eine optimistische Weltsicht als trostreich verteidigte, zumal die Ursachen der Übel eher auf den verderblichen Zustand der Zivilisation zurückzuführen seien. Auch die beiden Gelehrten Charles Bonnet und Albrecht von Haller diskutierten intensiv die Ursachen des Erdbebens in insgesamt zwölf Briefen.

Neben den Gelehrtenbriefen untersucht Gisler vor allem Predigten aus dem protestantischen Bereich, in denen straftheologische Konzepte erwartungsgemäss eine grössere Rolle spielen: Erdbeben sollten nach Elie Bertrand als Aufruf zu Umkehr und Busse verstanden werden, aber auch Nächstenliebe und Demut seien Tugenden, die der Christenmensch angesichts von Naturkatastrophen an den Tag legen solle. Zudem wurde das Lissabonner Erdbeben von 1755 auch direkt als Zornzeichen Gottes und Vorzeichen für weitere wichtige Ereignisse, ja selbst für das Weltende interpretiert. Es war somit die «wesentliche Aufgabe der Theologen, diese Zeichen gleichsam zu dechiffrieren, um den Gottesfürchtigen, aber auch den Ungläubigen, den rechten Weg zu weisen» (S. 181).

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kamen umfangreiche Enzyklopädien und gelehrte Zeitungen in aufgeklärten Kreisen immer stärker in Mode. Sie können als Spiegelbild dessen gelesen werden, was an – vornehmlich naturwissenschaftlicher – Bildung dem interessierten Bürgertum an Wissen zugänglich war. Beide Gattungen gehen auch ausführlich auf aktuelle und historische Erdbeben ein, allen voran die nach dem Vorbild der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert erstellte Encyclopédie d’Yverdon. Der Artikel darin zu Erdbeben bezieht neue wissenschaftliche Beschreibungssysteme, vornehmlich aus der Geologie, mit ein, die «eine theologische Deutung obsolet werden lassen» (S. 217). Vielmehr seien Erdbeben die Hauptursache für die ständigen geologischen Veränderungen auf dem Globus. Zudem wird darin auch die neue These diskutiert, Erdbeben als eine Wirkung von Elektrizität zu begreifen. Dieser Ansatz wird schliesslich auch ausführlich bei Horace-Bénédict de Saussure in der Spätaufklärung behandelt, etwa in einem unveröffentlichten Manuskript aus dem Jahr 1784. Seine umfangreichen Studien über die Westalpen, vor allem die vier Bände der 1779 bis 1796 erschienenen Voyages dans les Alpes, betonen zudem die Rolle von Erdbeben bei der Gebirgsbildung.

Betrachtet man die von Gisler herangezogenen Quellen in einer Zusammenschau, so lässt sich feststellen, dass es doch wieder auf weite Strecken der gelehrte Diskurs ist, der wirklich ausführlicher rekonstruierbar ist. Vielleicht haben nicht alle zeitgenössischen Autoren, die in der Studie gewürdigt wurden, einen derart prominenten Stellenwert in der Wissenschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts wie Johann Jakob Scheuchzer, Jean-Jacques Rousseau oder Horace-Bénédict de Saussure, aber auch die Journalisten, die in Zeitungen über Erdbeben berichteten oder die entsprechenden Stichwörter in national ausgerichteten Enzyklopädien verfassten, gehörten zumindest zu einem weiteren Kreis bürgerlicher Bildungseliten – und deren LeserInnenschaft ebenso. Über Erdbebenerklärungen in weniger gebildeten Schichten erfährt man ebenso wenig wie etwa über spezifisch von Frauen vertretene Erklärungsmuster. Mangels aussagekräftiger Quellen aus diesen sozialen Gruppen war die Beantwortung derartiger Fragen aber vielleicht schon a priori unlösbar.

Innerhalb der Gelehrtenkreise der Schweiz ist für das 18. Jahrhundert auch keine Schulbildung zu erkennen; fast alle der Gelehrten konzentrierten sich auf wissenschaftliche Kontakte im Ausland, etwa in Deutschland, den Niederlanden oder in Frankreich (S. 254). Als spezifisch schweizerisches Phänomen kann hingegen der enge Zusammenhang von Erdbeben- und naturkundlicher Gebirgsforschung betrachtet werden (S. 255). Schliesslich resümiert Gisler auch, dass die Diskussion im 18. Jahrhundert von einem Nebeneinander von religiösen und rationalen Motiven, von Vernunft und Glaube geprägt waren. Grundsätzlich lasse sich bis in die Spätaufklärung «eine enge Beziehung und hohe Loyalität der Akademiker gegenüber der Religion und den herrschenden christlichen Dogmen feststellen» (S. 255).

Gisler, die mehrere Jahre als Historikerin für den Schweizerischen Erdbebendienst tätig war, bedient mit ihrer Arbeit aber nicht nur die Kulturwissenschaft, sondern auch die stärker naturwissenschaftlich ausgerichtete Seismologie, deren Hauptanliegen bei der Rekonstruktion historischer Erdbeben vornehmlich die aktuelle Risikoabschätzung für eine Region ist. In einem Exkurs geht Gisler erstmals ausführlich auf das Erdbeben im Kanton Wallis vom 9. Dezember 1755 ein, das kurz nach dem Lissabonner Erdbeben ganz besonders aufmerksam registriert wurde (S. 143–150). Im Anhang (S. 263–266) führt sie zudem alle derzeit bekannten Erdbeben des 18. Jahrhunderts in der Schweiz an, die eine Intensität von mindestens 4 auf der EMS98-Skala erreichten. Ein umfangreiches Verzeichnis der verwendeten Quellen, der zeitgenössischen Druckwerke und der modernen Literatur rundet die gelungene Studie ab.

Zitierweise:
Christian Rohr: Rezension zu: Monika Gisler: Göttliche Natur? Formationen im Erdbebendiskurs der Schweiz im 18. Jahrhundert. Zürich, Chronos Verlag, 2007. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 2, 2009, S. 238-241.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 2, 2009, S. 238-241.

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